Audiovisuelle digitale Repräsentation von Sequenzen Notkers des Stammlers († 912)

Einleitung

Nisi enim ab homine memoria teneantur, soni pereunt, quia scribi non possunt.
„Wenn sie nämlich nicht vom Menschen im Gedächtnis behalten werden, vergehen die Töne, weil man sie nicht aufschreiben kann.“

So schreibt der Kirchenlehrer Isidor von Sevilla um 625 in seinen "Etymologien" und meint damit wohl, dass zwar eine Notenschrift, die einzelne Tonorte in Bezug auf ein Tonsystem benennen konnte, seit der Antike bekannt war, der genaue agogische Verlauf der Melodielinie jedoch nicht notiert werden konnte.
Im Zeitalter der Karolinger im 9. Jahrhundert wurde mit den Neumen eine solche Notenschrift entwickelt, die den liturgischen Gesang, den so genannten Gregorianischen Choral und seine Erweiterungen in Dichtung und Musik wie Tropus und Sequenz, erstmals in entscheidend neuer Weise, nämlich dem genauen agogischen Verlauf entsprechend, aufzeichnen konnte.
Eines dieser Zentren für das Aufschreiben von Musik war das Kloster St. Gallen und heute noch legen die wertvollen Musikhandschriften, wie sie in großer Zahl und einmalig geschlossener Weise in der Stiftsbibliothek St. Gallen gehütet werden, Zeugnis davon ab.

CD Notker Balbulus

CD-Einspielung Notker Balbulus

Obwohl die Musik, die im 9. und 10. Jahrhundert das Kloster St. Gallen erfüllte, längst verklungen ist, bieten die St. Galler Handschriften wertvolle Anhaltspunkte, diese heute wieder zum Leben zu erwecken. Durch ein sorgfältiges Studium der Handschriften zusammen mit den neuen digitalen Techniken ist es möglich, die Musik des Gallusklosters so weit als möglich zu rekonstruieren, die velorenen „Beispiel“ wieder zu finden.

Ein solches Projekt stellt die CD-Einspielung "Notker Balbulus – Sequenzen, Tropen und Gregorianischer Choral aus dem Kloster St. Gallen" dar, die in Zusammenarbeit zwischen der Stiftsbibliothek St. Gallen (Stiftsbibliothekar Prof. Dr. Ernst Tremp), dem Südwest-Rundfunk Tübingen (SWR, Frau Dr. Anette Sidhu-Ingenhoff), dem Label Christophorus, dem Musikwissenschaftlichen Institut der Universität Tübingen (Prof. Dr. Stefan Morent) und dem Ensemble Ordo Virtutum für Musik des Mittelalters (Ltg.: Stefan Johannes Morent) entstand.

Die CD ist im Januar 2011 erschienen und seither von der Fachpresse bereits mit besten Kritiken und Preisen bedacht worden, wobei besonders die wissenschaftliche Sorgfalt und künstlerische Umsetzung der in den Handschriften notierten Musik hervorgehoben werden.

Die Einspielung dokumentiert das Schaffen von Notker Balbulus (dem „Stammler“), der als einer der herausragenden Dichter-Musiker im Galluskloster im 9./10. Jahrhundert wirkte und vor allem die Gattung der Sequenz ins Leben rief, die in der Liturgie nach dem Alleluia gesungen wird. Die ältesten Handschriften mit Notkers Werken liegen heute noch in der Stiftsbibliothek.

Besonderes Augenmerk galt hierbei der Rekonstruktion der Melodien durch Vergleich zahlreicher Handschriften und der Umsetzung von Feinheiten der gesanglichen Interpretation, wie sie von speziellen Neumenzeichen angezeigt werden.
Bereits zu Beginn dieses Aufnahme-Projekts bestand der Plan, die nun wieder zum Klingen erweckte Musik mit den Handschriften zusammenzuführen. Hierfür bestehen im Fall von St. Gallen besonders gute und einmalige Voraussetzungen, da alle in Frage kommenden Handschriften bereits innerhalb des international sehr beachteten Projekts e-codices an der Universität Freiburg/Schweiz (Ltg: Prof. Dr. Christoph Flüeler) digitalisiert wurden.

In einem ersten Schritt wurden deshalb auf einer das Projekt begleitenden Seite des SWR einzelne Stücke der CD mit Bildern aus dem e-codices-Projekt kombiniert, so dass die Besucher der Website zur erklingenden Musik auch einzelne Seiten der Handschriften betrachten konnten.
Eine dauerhaft befriedigend Lösung bot diese Projekt-Seite allerdings noch nicht: Denn zum einen standen nur einzelne Stücke in Ausschnitten bereit, zum anderen waren die Handschriften-Seiten statisch, d.h., sie wechselten nicht synchron mit der Musik.

In einem gemeinsamen Projekt zwischen der Stiftsbibliothek St. Gallen, dem e-codices-Projekt an der Universität Freiburg/Schweiz, dem SWR Tübingen und der Universität Tübingen sowie dem Christophorus-Label sollen deshalb die eingespielten Sequenzen Notkers nun dauerhaft und dynamisch mit den entsprechenden Digitalisaten der Handschriften verbunden werden.

Die Rechte für die Bereitstellung und Verwendung der Bilder sowie der Aufnahme wurden als wichtige Voraussetzung für die Durchführbarkeit des Projekts durch die beteiligten Partner geklärt. Zudem wurde eine weitere wichtige Handschrift für die Sequenzen Notkers, Codex 121 aus dem Kloster Einsiedeln, ebenfalls über e-codices verfügbar gemacht.

Notker Balbulus, Minden 144r

Multimediale digitale Edition

Von programmiertechnischer Seite aus sollte hierzu eine eigene Website erstellt werden, deren Oberfläche den Benutzern einen intuitiven und einfachen Zugang zu den Handschriften und den Audio-Aufnahmen erlaubt. Intern werden die verschiedenen Handschriften so mit den einzelnen Aufnahmen verlinkt, dass ein synchroner Seitenwechsel auch bei wechselnden Handschriften-Bildern ermöglicht wird.

Das Projekt zielt in dieser Form sowohl auf Interessenten ohne besondere Fachkenntnisse als auch auf wissenschaftliche Benutzer. Entsprechende Hinweise und Links auf den Seiten von e-codices weisen die Seiten-Besucher darauf hin, dass zu diesen Handschriften optional Audio-Material vorhanden ist.

Im Gegensatz zu anderen UNESCO-Weltkulturerbe-Stätten wie dem Inselkloster Reichenau oder dem Kloster Lorsch sind in St. Gallen fast alle mittelalterlichen Handschriften noch vor Ort vorhanden. Zunehmend gewinnt der Schutz originaler Handschriften durch die Arbeit mit Digitalisaten, die Verfügbarkeit von Texten und Bildern im Web sowie neue Ansätze der Forschung durch multimediale Verknüpfungen an Bedeutung.

Das Projekt versteht sich als Beitrag und gleichzeitig Erweiterung hierzu. Durch die Verknüpfung mit Audio-Material entsteht ein weiterer Schritt hin zu einer virtuellen multimedialen Klosterbibliothek. Für die Wissenschaft und interessierte Benutzer erschließt sich damit das geistige Profil eines bedeutenden Bildungszentrums des Mittelalters wie St. Gallen.
So kann das Projekt exemplarisch zeigen, welche Chancen die heutige Informations- und Mediengesellschaft auf dem Gebiet der Digital Humanities bietet, um Zukunftstechnologie und kulturelles Erbe sinnvoll und innovativ miteinander zu verbinden.

Anschlussmöglichkeiten bestehen in Form übergreifender Projekte, wie etwa der von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Datenbank Manuscripta mediaevalia oder der Datenbank Europeana zur Digitalisierung des kulturellen Erbes Europas oder anderer Digitalisierungsprojekte.

Das Projekt versteht sich als Pilotprojekt, das in nachfolgenden Schritten ergänzt und erweitert werden kann.

Die Projektpartner danken besonders der Accentus-Stiftung und der Ernst Göhner Stiftung für die großzügige Unterstützung.


– Prof. Dr. Stefan Morent, Musikwissenschaftliches Institut der Universität Tübingen